Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit in Deutschland und im Harz
Im Harz gab es während des Dritten Reiches eine Vielzahl von Rüstungsbetrieben und kriegswichtigen Zulieferbetrieben. Prädestiniert durch seine strategisch-geografisch günstige Lage in der Mitte des Deutschen Reiches ("Mittelraum"), das vor Kriegsbeginn brachliegende industrieerfahrene Arbeitskräftepotential dieser Region und nicht zuletzt die guten Tarnungsmöglichkeiten für die neuen Rüstungsbetriebe entwickelte sich im Harzgebiet und Harzvorland ein Schwerpunkt der nationalsozialistischen Rüstungsproduktion.
Allein im Bereich der heutigen Landkreise Göttingen, Holzminden, Osterode, Goslar und Northeim arbeiteten während des 2. Weltkrieges über 140 Betriebe an knapp 40 Standorten für die Rüstungsindustrie. Etwa ein Viertel dieser Firmen stellten chemische Vorprodukte oder Sprengstoffe her. Im Harz befanden sich aber nicht nur kriegswichtige Betriebe der Chemie- und der Metallverarbeitungsbranche. Hinzu kamen strategisch wichtige Anlagen wie die Harzer Erzbergwerke oder der Fliegerhorst Goslar. Herausragend kriegswichtige Betriebe waren z.B.:
Den
meisten dieser Werke wurden im Krieg Arbeitslager für Zwangsarbeiter
oder Kriegsgefangene zugeordnet. Denn in der Kriegswirtschaft des sog. 3.
Reiches, insbesondere im Metall- und Bergbausektor, herrschte kriegsbedingt
ein eklatanter Arbeitskräftemangel. Die vielen Millionen Fremdarbeiter,
die ab Herbst 1941 nicht mehr nur in der Landwirtschaft, sondern mit der
Umstellung auf einen langen Abnutzungskrieg auch in der Industrie zum "Arbeitseinsatz"
kamen, lebten in einem System von Lagern und Barackenbehausungen, die zum
Bild aller Städte und fast jedes Dorfes in Deutschland gehörten.
Nach Schätzungen existierten auf dem Reichsgebiet insgesamt etwa 20.000
Lager dieser Art; nur ein Bruchteil von ihnen ist bis heute namhaft gemacht
(WEINMANN 1990).
Der Lagerkosmos des NS-Systems wurde seit 1933 systematisch entwickelt; dabei nutzte man sogar langjährige Erfahrungen hinsichtlich der Lagerorganisation in der mit NS-Deutschland zeitweise verbündeten Sowjetunion. Die SU hatte ihr Lagersystem schon seit den 20er Jahren aufgebaut und zunehmend perfektioniert; dieses Wissen wollte die Naziführung offenbar nutzen. STETTNER (1996) zitiert ROSSI und eine französische Darstellung, nach der im August 1939 hochrangige NS-Funktionäre eine Inspektionsreise durch das GULag-System unternommen hätten. ROSSI berichtet (zit. nach STETTNER) weiterhin, dass sich im Sommer 1941 - kurz vor dem deutschen Angriff auf die SU - eine Kommission des NKWD in Deutschland aufgehalten und das NS-Strafvollzugssystem studiert habe. So sensibel Vergleiche (nicht Gleichsetzungen!) der beiden Terrorregime auch sind: STETTNER stellt fest, dass sich beide Lagersysteme nur in einem wesentlichen Punkt unterschieden - der direkten Vernichtung. Die Massenerschießungen und Gaskammern der NS-Lager gab es in der Sowjetunion nicht. Ansonsten weisen beide Lagersysteme aber verblüffende Parallelen auf - vom organisatorischen Aufbau und der Millionenzahl der Toten durch indirekte Vernichtung über den systematischen Einsatz des Faktors Hunger bis hin zur Stellung des Lagersystems im Wirtschaftsregime des jeweiligen Landes. - Auch beim Aufbau des NS-Polizeiapparates gab es Parallelen; so ist bekannt, dass sich Heydrich frühzeitig über Stalins Unterdrückungs- und Spionageorgan GPU und dessen Methoden informieren ließ, um die entsprechenden Erfahrungen für seine Arbeit auszuwerten.
Hervorragende Originalquellen für die Lokalisierung der NS-Lager sind immer noch die von WEINMANN (1990) kommentiert neu herausgegebenen beiden Lagerkataloge des International Tracing Service (Catalogue of Camps and Prisons in Germany and German-Occupied Territories; CCP); hier sind etwa 7000 Lager und Gefängnisse lokalisiert. Größe und Art der Zwangsarbeitslager für Ausländer, oft in verharmlosender Pauschalierung "Arbeitslager" oder "Zivilarbeiterlager" genannt, wichen nach WEINMANN stark voneinander ab. Viele Lager hatten den Charakter streng bewachter Haftstätten; in anderen Fällen waren es umzäunte oder nicht umzäunte Unterkünfte, die auf diese Weise leichter von der Polizei zu kontrollieren waren. Bei Detailforschungen stellte sich jedoch immer wieder heraus, dass der Anteil bewachter, rigide kontrollierter Lager sehr hoch liegt.
Anders
als die KZ lagen die Zwangsarbeitslager im Wahrnehmungsfeld der Bevölkerung
- auch im Harz. Trotzdem wollen sich nur wenige Zeitzeugen freimütig
an diese Lager erinnern, obwohl es auch immer wieder Fälle gab, in
denen Deutsche den teilweise unterernährten Ausländern in den Lagern
aus Mitleid Nahrungsmittel zukommen ließen. Zur Normalität des
Lageralltags konnte gehören, dass die "Fremdvölkischen" am Arbeitsplatz
- immerhin zumeist mitten in deutschen Betrieben! - zusammenbrachen, weil
ihre Nahrungsmittelrationen unter das Existenzminimum gesenkt worden waren.
Zu den normalen Selbstverständlichkeiten gehörte es auch, dass
bei Luftangriffen "den Ausländischen" der Zugang zu den Luftschutzkellern
verwehrt war - sie waren für die Deutschen reserviert (weitgehend nach
WEINMANN 1990).
Übersicht der Zwangsarbeitslager (ZL), KZ-Arbeitskommandos und Gefängnisse im Westharz
Wir haben uns bei der Zusammenstellung der nachfolgenden Liste auf den niedersächsischen Teil des Harzes mit den heutigen Landkreisen Goslar und Osterode beschränkt; die Hinzunahme des im übrigen wegen der bekannten KZ-Anlagen Mittelbau-Dora bei Nordhausen (Thüringen) und Langenstein bei Halberstadt (Sachsen-Anhalt) in der Literatur bereits sehr viel besser untersuchten Ostharzgebietes hätte den Rahmen dieser kurzen Übersichtsdarstellung gesprengt. Die Daten stützen sich im wesentlichen auf die beiden zitierten Bände des Catalogue of Camps and Prisons, wurden aber aus anderen Quellen ergänzt. Nicht berücksichtigt wurden die Harzer Arbeitskommandos der Kriegsgefangenen-Stammlager der Wehrmacht, in denen ebenfalls Zwangsarbeit geleistet wurde.
Herausragende
Belegungszahlen von über 2000 Arbeitern hat der Lagerkomplex des Werkes
Tanne in Clausthal-Zellerfeld, was aufgrund der Kriegsrelevanz des dortigen
Sprengstoffwerkes der Verwertchemie, eines der größten des Reiches,
nicht verwundert. An zweiter Stelle folgen die Lager der Metallwerke in
Sankt Andreasberg-Silberhütte.
Verantwortung der heutigen Firmen und Nachfolgefirmen Auf die allermeisten dieser Lager im Harz, in denen sich teilweise grausame Schicksale abgespielt haben, verweisen keine Tafeln oder Gedenksteine; ihre Geschichte ist bisher nur ansatzweise erforscht und dargestellt und muss zumeist erst noch geschrieben werden. Eine besondere Verantwortung kommt hierbei den Firmen bzw. Nachfolgefirmen zu, die heute für die Produktions- bzw. Lagerstandorte von damals verantwortlich sind. Beispielhaft seien genannt: - Borchers AG/H.C.Starck GmbH
& Co. KG (Zwangsarbeit in den gleichnamigen Firmen in Goslar)
Die Preussag arbeitet die Geschichte ihrer Zwangsarbeit nach langem
Zögern nunmehr aktiv auf; von den anderen genannten Firmen sind bisher
erst Ansätze, z.T. jedoch gar keine Aktivitäten bekannt geworden.
|
Altenau
ZL
Baugebiet Eckertalsperre: 90
Arbeiter
ZL
Baugebiet Okertalsperre: 100
Arbeiter
ZL
Forstamt Altenau
Bad Grund
ZL
Erzbergwerk: 150 Arbeiter
ZL
Fa. Steine und Erden: 180 Männer und 170 Frauen
Bad Harzburg
ZL
Kruppsche Bergverwaltung Bad Harzburg: 120 Arbeiter
ZL
Eckertal-Baracken: 50 Arbeiter
Gerichtsgefängnis:
26 Insassen bekannt
"Bad
Lautenthal" (wahrscheinlich Lautenthal)1
"Beobachtungslager
Bad Lautenthal" der Kinderheilanstalt Braunschweig
(der
Tod von 8 Kindern ist beurkundet): ? Kinder
Bad Lauterberg
ZL
Schickert &
Co.: 400 Arbeiter
ZL
Metallwerk Odertal:
500 Arbeiter ("Lager Hauxkopf")
Braunlage
6
ZL bei verschiedenen Betrieben: 260 Arbeiter
Bündheim
ZL
Sieg-Lahn-Bergbau GmbH, Ledigenheim: 50 Arbeiter
Clausthal-Zellerfeld
mehrere
ZL der Fabrik zur
Verwertung chemischer Erzeugnisse Clausthal-Zellerfeld GmbH: 1200 Arbeiter
ZL
Dynamit AG, Bauleitung: 300 Arbeiter
ZL
Bauhof: 400 Arbeiter
ZL
Bürgergarten: 100 Arbeiter
ZL
Gemeindehaus: 50 Frauen
Bereitschaftslager:
650 Arbeiter
Gerichtsgefängnis:
260 Insassen bekannt
Dörnten
ZL
J.F. Eisfeld Pulverfabrik Kunigunde: 100 Arbeiter
Goslar
KZ-Außenkommando
des KZ Buchenwald (25.11.1940 - 7.12.1942): durchschnittlich 60 - 80 KZ-Häftlinge
KZ-Außenkommando
des KZ Neuengamme (Oktober 1944 - Ende März 1945): 15 KZ-Häftlinge
ZL
Fliegerhorst: 80 Arbeiter
ZL im Schleeke der
Chemischen Fabrik Gebr. Borchers AG: 550 Arbeiter
ZL Erzbergwerk Rammelsberg:
350 Arbeiter
ZL
Goslarer Kleinbetriebe am Petersberg: 200 Arbeiter
ZL
Reichsbahnlager Astfelder Straße: 100 Arbeiter
ZL
Grauhof (2 Lager): 100 Arbeiter
ZL
Weinbrunnen, Clausthaler Straße: 50 Arbeiter
Groß-Döhren
ZL
Bergverwaltung Mitteldeutschland: 130 Arbeiter
Harlingerode
ZL
Zinkhütte: 200 Arbeiter
Hattorf
ZL
Flachsspinnerei C. Weber & Co.: 140 Frauen
Herzog-Juliushütte
ZL
Forstamt Langelsheim: 50 Arbeiter
ZL
Hüttenwerk Herzog-Juliushütte: 85 Arbeiter
Herzberg
ZL
Dynamit AG, Lager Wiese: 300 Arbeiter
Klein Rhüden
ZL
Eike: 90 Arbeiter
Langelsheim
ZL
Rumels: 200 Arbeiter
ZL
An der Innerste: 120 Arbeiter
ZL
Kalkrösecke: 50 Arbeiter
ZL
Mitteldeutsche Sprengstoffwerke: 220 Arbeiter
ZL
Arkona: 100 Arbeiter
Lautenthal
ZL
Silberhütte: 80 Arbeiter
Lager
Rote Klippe (Funktion unklar)
Liebenburg
ZL
(Liebenburg): 300 Arbeiter
Münchehof
ZL
Münchehof: 300 Arbeiter
Nüxei
KZ Baubrigade III (Bahnbau):
300 KZ-Häftlinge2
Oker
ZL
Chemische Werke Dr. Lüddemann: ? Arbeiter
ZL
Bleikupferhütte: 240 Arbeiter
ZL
Zinkoxydhütte: 230 Arbeiter
Osterhagen
KZ Baubrigade III:
300 KZ-Häftlinge2
Osterode
KZ
Maschinenfabrik Curt Heber: 300 KZ-Häftlinge3
KZ
Dachs IV, Petershütte: 300 KZ-Häftlinge4
ZL
Maschinenfabrik Curt Heber: 650 Arbeiter
ZL
Anton Piller: 450 Arbeiter
ZL
Nordwerke: 50 Arbeiter
ZL
R. Kellermann: 430 Arbeiter
ZL
Greve Uhl: 180 Arbeiter
ZL
Städtisches Polenlager: 220 Arbeiter
ZL
Waldlager Bremketal, OT-Lager: 290 Arbeiter5
ZL
Fa. Lorenz, Turnhalle: 310 Arbeiter
ZL
Optische Werke (Oigee): 200 Arbeiter
ZL
(Freiheit); Arbeitseinsatz für Oigee und Heber: ? Arbeiter
Gerichtsgefängnis:
1000 Insassen bekannt
Sankt Andreasberg
ZL
E. Leybolds Nachf.: 100 Arbeiter
ZL Metallwerk Schmiedag
AG Silberhütte: 900 Arbeiter
ZL Metallwerke Silberhütte:
380 Männer und 140 Frauen ("Lager Knieholz")
Seesen
ZL
F. Züchner: 500 Arbeiter
ZL
Sieburg & Pförtner: 300 Arbeiter
ZL
Gerhards: 150 Arbeiter
ZL
Konservenfabrik Illemann & Bosse: 100 Arbeiter
ZL
Schmalbach AG: 150 Arbeiter
ZL
Bahnmeisterei: 70 Arbeiter
ZL
Wilhelms: 50 Arbeiter
Gerichtsgefängnis:
5 Insassen bekannt
Tettenborn
KZ Baubrigade III:
100 KZ-Häftlinge2
ZL
Gastwirtschaft Otto Mohrich: 60 Arbeiter
ZL
Gastwirtschaft Nussbaum: 70 Arbeiter
Vienenburg
ZL
Baufirma Sievers & Co.: 60 Arbeiter
Walkenried
KZ Baubrigade III:
300 KZ-Häftlinge2
ZL
Juliushütte: 200 Arbeiter
Gerichtsgefängnis:
2 Insassen bekannt
Wieda
KZ Baubrigade III:
250 KZ-Häftlinge2
Wiedelah
ZL
Güterbahnhof: 50 Arbeiter
Wolfshagen
ZL
(Wolfshagen): 50 Arbeiter
Zorge
ZL
(Zorge): 140 Arbeiter
Erläuterungen zur Liste
ZL: Zwangsarbeitslager
KZ: Konzentrationslager; hier: KZ-Arbeitskommandos (Außen- bzw. Unterkommandos)
1 Weitgehend unerforscht; siehe oben. Das Beobachtungslager lag vermutlich im Lautenthaler Waldschlößchen.
2 KZ-Arbeitskommandos der KZ Buchenwald, Mittelbau-Dora und Sachsenhausen (wechselnde Zuständigkeiten); Gesamtzahl der KZ-Häftlinge der Baubrigade III (Schreibweise auch "Baubrigade 3"): 1000 (diese Summe bleibt allerdings angesichts der o.a. Detailzahlen widersprüchlich, zumal die Brigade weitere Standorte in Thüringen besaß)
3 KZ-Kommando des KZ Buchenwald, später KZ Mittelbau-Dora
4 KZ-Kommando des KZ Mittelbau-Dora, Nordhausen
5 Lager der Organisation Todt
(...): Die in Klammern gesetzten Lager tragen im CCP keinen eigenen Namen
Bereitschaftslager: nicht eingezäuntes Lager für deutsche Zwangsverpflichtete
Kleine orthographische Fehler im englischen Original wurden stillschweigend korrigiert; für weiterführende Studien, z.B. zu den schwankenden Belegungszahlen der Lager, sollte das englische Original herbeigezogen werden.
In
der Summe ergibt sich, daß zu Ende des 2. Weltkrieges allein im Westharzgebiet
ca. 18.000 Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge für die deutsche Kriegswirtschaft
arbeiteten.
Exkurs: Zwangsarbeiterinnen und ihre Kinder
Ein von der Forschung bis heute stark vernachlässigtes Kapitel sind die Kinder von Zwangsarbeiterinnen und die "Ausländerkinderpflegestätten". Vielen Zwangsarbeiterinnen wurden ihre Kinder im Sinne einer dauerhaft hohen Arbeitsproduktivität weggenommen und teilweise regelrecht "entsorgt" (www.krieggegenkinder.de).
Zur Lage der Zwangsarbeiterinnen und ihrer Kinder schreibt TOLLMIEN: "Fast immer waren die Zwangsarbeiterinnen noch einmal schlechter gestellt als die männlichen Zwangsarbeiter. Obwohl sie die gleiche Arbeit wie die Männer verrichteten, erhielten sie eine noch schlechtere Bezahlung und waren zudem weitgehend schutzlos Übergriffen durch deutsche Arbeiter und Lagerführer ausgesetzt. So kam es immer wieder zu Vergewaltigungen durch das überwiegend männliche Wachpersonal in den Zwangsarbeiterlagern. Wenn die Frauen schwanger wurden, mußten sie entweder abtreiben oder man zwang sie umgekehrt dazu, das Kind auszutragen. Denn im Juni 1943 hatte das nationalsozialistische Rassedenken einen weiteren perversen Höhepunkt mit der Unterscheidung von "gutrassigen" und "schlechtrassigen" Zwangsarbeiterkindern erreicht: "Gutrassige" Zwangsarbeiterkinder sollten als Deutsche (entweder in Heimen oder bei Familien) erzogen werden, während "schlechtrassige" in extra eingerichtete sog. Ausländerkinderpflegestätten gebracht wurden, wo sie zumeist an Unterernährung oder Krankheiten infolge gezielter Vernachlässigung innerhalb weniger Wochen oder Monate starben. Lediglich den Zwangsarbeiterinnen, die in deutschen Familien als Haus- und Kindermädchen arbeiteten, ging es zumeist besser als ihren Leidensgenossinnen, die in den Rüstungsfabriken schufteten. Vor allem die Ernährung war in den Familien in der Regel besser. Aber auch hier waren sie vor persönlicher Mißhandlung oder sexuellen Übergriffen nicht sicher."
Auch aus dem Harz sind entsprechende Schicksale bekannt, wenn auch noch kaum näher erforscht. Auf dem Feld A4 des evangelischen Friedhofs in Clausthal-Zellerfeld, dem "Sammelgrab" des Werkes Tanne, liegen u.a. zwei polnische Kinder, die noch nach der Befreiung im Alter von acht Jahren bzw. fünf Monaten gestorben sind. Auf dem "Russenfriedhof" an den Pfauenteichen nahe dem Werk Tanne liegen u.a. sechs sowjetische Kinder, die innerhalb eines Jahres, zwischen Februar 1944 und März 1945, an "Herzschwäche", "Gelbsucht" und "allgemeiner Körperschwäche" starben. Drei der Kinder sind in Clausthal-Zellerfeld geboren, drei kamen mit ihren zur Zwangsarbeit verschleppten Müttern nach Deutschland. Das älteste Kind starb im Alter von drei Jahren, das jüngste im Alter von sechs Tagen (STUDIENKREIS ZUR ERFORSCHUNG UND VERMITTLUNG DER GESCHICHTE DES WIDERSTANDES 1933-1945, 1985).
PIETSCH (1998) erwähnt u.a. folgende Fälle aus dem Werk Tanne: Die in Lautenthal geborene Maria-Herta Pecaritsch, Tochter einer tschechischen Zwangsarbeiterin, starb am 7.8.1944 in Clausthal; Todesursache: toxische Kehlkopfdiphterie mit Luftröhrenschnitt, Herzmuskelschwäche; das Kind war keine zwei Jahre alt. Am 14.1.1944 wurde Hans Zajak in Clausthal-Zellefeld geboren; das Kind erhielt die ukrainische Staatsangehörigkeit wie seine Mutter Anna, die in der Baracke 10 des Bereitschaftslagers Tanne gemeldet war. Die in Clausthal-Zellerfeld geborene Tamara Sitschowa, Tochter einer russischen Zwangsarbeiterin, starb kurz vor ihrem ersten Geburtstag am 9.2.1944 an einer Herzkrankheit. Am 26.8.1944 wurde Heinz-Peter van Dam als Kind einer belgischen Arbeiterin in Clausthal-Zellerfeld geboren. Am 24.10.1944 wurde Jerzy Brijnska in Clausthal-Zellerfeld geboren; die Mutter Halina, eine gebürtige Warschauerin, war bei der Geburt des Sohnes 22 Jahre alt. Der zweijährige Wolja Drigol aus Sapole, Sohn einer russischen Zwangsarbeiterin, starb am 28.12.1944 in Clausthal-Zellerfeld an Herzmuskelschwäche. Die dreijährige Nadja Nowitschonok aus Sapolja, Tochter einer russischen Zwangsarbeiterin, starb am 29.12.1944 in Clausthal-Zellerfeld an Herzschwäche. Der einjährige Franz Michailitschenko aus Saagen, Sohn einer polnischen Zwangsarbeiterin, starb am 27.3.1945 in Clausthal-Zellerfeld an Grippe, Spasmophilie und Herzschwäche.
Exkurs: Das "Beobachtungslager Bad Lautenthal" - eine offene Frage
Es ist noch unklar, welche Funktion das bis 1945 wahrscheinlich im Langelsheimer Stadtteil Lautenthal befindliche "Beobachtungslager" der Kinderheilanstalt Braunschweig, für welches der Tod von acht Kindern beim ITS Arolsen beurkundet ist (WEINMANN 1990), hatte. Das "Beobachtungslager" - wenn es denn in Lautenthal lag - befand sich zentral zu den Zwangsarbeitsschwerpunkten der Nord- und Oberharzer Rüstungsindustrie. Es liegen Zeitzeugenhinweise darauf vor, dass hier möglicherweise Abtreibungen an Zwangsarbeiterinnen des (süd-)niedersächsischen Raums vorgenommen wurden. Noch nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann auch eine Lage des Lagers in Bad Lauterberg.
Völlig unklar ist auch, ob das Beobachtungslager möglicherweise (teil-)identisch mit dem von REITER (1993:209f.) erwähnten NSV-Entbindungsheim war, das 1944 im Lautenthaler Hotel "Waldschlößchen" eingerichtet wurde. Die Zustände dort müssen auch für deutsche Frauen haarsträubend gewesen sein, denn im Frühjahr 1944 bekam ein Medizinalrat in Hannover eine Beschwerde aus Lautenthal mit Unterschriftenliste. Das Personal beschwerte sich darin im Zusammenhang mit dem Tod eines deutschen Kindes über eine Hebamme und elf Frauen beklagten die allgemein "unwürdigen Zustände" im Heim, zu denen sie auf Aufforderung nähere Auskunft erteilen könnten. 1944 sollen nach Auskunft des Standesamtes Lautenthal 200 Geburten im Heim Lautenthal stattgefunden haben. Es lassen sich dabei auch Totgeburten deutscher Kinder nachweisen.
Die Termini "Beobachtungslager" bzw. "Beobachtungsanstalt" tauchen in der Literatur nur selten auf. WEINMANN (1990) schreibt unter dem Stichwort "Aktion T 4" (= Euthanasie) auf S. XIII ff.: "Als ... beunruhigte Angehörige Nachforschungen anzustellen begannen, wurden ab Herbst 1940 die Kranken nicht mehr direkt in die Tötungsanstalten gebracht, sondern zunächst in sogenannte Zwischenanstalten ("Beobachtungsanstalten"). Die Angehörigen erreichte nun von dort zunächst die Benachrichtigung, die Pflegeperson sei wohlbehalten angekommen, und kurze Zeit später die Nachricht über die Weiterverlegung in eine andere Anstalt. Der Name der Vernichtungsanstalt wurde dann nicht mehr genannt." Der Harz als Erholungslandschaft wäre natürlich für eine solche Beobachtungsanstalt eine geeignete und unverdächtige Adresse gewesen. Es gibt allerdings bisher absolut keine Hinweise darauf, dass es im Harz eine solche Anstalt gegeben hätte; auffällig ist nur die Terminologie.
Weitergehende Interpretationsversuche sind zunächst Spekulation; hier hat die aktuelle Forschung anzusetzen.
Zumindestens erwähenswert ist in diesem Zusammenhang, das im Lautenthaler Waldschlößchen der im Auschwitz-Prozess des zehnfachen Mordes und der Beihilfe zum Mord in über eintausend Fällen für schuldig befundene Massenmörder Oswald Kaduk, Adjutant des 1947 in Polen hingerichteten Auschwitzer Lagerkommandanten Rudolf Höß, nach Absitzen der Strafe seinen Lebensabend verbrachte. Kaduk und sein Verhalten im Prozess war ein Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte; keiner der Angeklagten hatte Schuld eingestanden, keiner ein Wort der Reue oder Einsicht gefunden. Immer schon wollten sie jene harmlosen Klein- und Mitbürger gewesen sein, als die sie bei ihrer Verhaftung vorgefunden wurden – Familienväter, Angestellte, Lehrer, Ärzte, Apotheker. „Papa Kaduk!“ hatten die Patienten der Klinik, wo er als Pfleger arbeitete, den „Schrecken von Auschwitz“ gerufen.
Dank
Herrn Dipl.-Geogr. Frank Jacobs, Goslar, danke ich für die Unterstützung bei der Recherche und Zurverfügungstellung von Quellenmaterial; Baron Dietrich von Staden (+) gab wichtige Anregungen.
Literatur
BRAEDT, M., HÖRSELJAU, H., JACOBS, F. & KNOLLE, F. (1993): Die Sprengstoffabrik Tanne in Clausthal-Zellerfeld.- In: Rüstungsindustrie in Südniedersachsen während der NS-Zeit. - Schriftenr. Arbeitsgem. Südniedersächs. Heimatfr. 9:66-118, Northeim (vollst. Überarb. als BRAEDT, M., HÖRSELJAU, H., JACOBS, F. & KNOLLE, F. (1998): Die Sprengstoffabrik "Tanne" in Clausthal-Zellerfeld - Geschichte und Perspektive einer Harzer Rüstungsaltlast, 166 S., 58 Abb., Verlag Papierflieger, Clausthal-Zellerfeld)
INTERNATIONAL TRACING SERVICE (1949): Catalogue of Camps and Prisons in Germany and German-Occupied Territories, Sept. 1st, 1939 - May 8th, 1945, Ist Issue, Arolsen, July 1949
INTERNATIONAL TRACING SERVICE (1950): Catalogue of Camps and Prisons in Germany and German-Occupied Territories, Sept. 1st, 1939 - May 8th, 1945, Vol. II, Arolsen, April 1950
KNOLLE, F. & RUTSCH, A. (2000): Die Metallwerke Silberhütte - Sankt Andreasberg war von 1934 - 1945 kriegswichtiger Rüstungs- und Zwangsarbeitsstandort.- Sankt Andreasberg
KRISTAN, Tone: http://home.t-online.de/home/RIJONUE/sloweni3.htm
PIETSCH, J. (1998): Sprengstoff im Harz. Zur Normalität des Verbrechens: Zwangsarbeit in Clausthal-Zellerfeld.- 248 S., Edition Hentrich, Berlin
REITER, R. (1993): Tötungsstätten für ausländische Kinder im Zweiten Weltkrieg. Zum Spannungsverhältnis von kriegswirtschaftlichem Arbeitseinsatz und nationalsozialistischer Rassenpolitik in Niedersachsen.- Hannover
SCHYGA,
P. unter Mitarbeit von JACOBS, F. & KNOLLE, F. (1999): "Gebt uns unsere
Würde wieder" – Kriegsproduktion und Zwangsarbeit in Goslar 1935 –
1945. Eine Begleitbroschüre zur gleichnamigen Ausstellung.– 42 S., Verein
Spurensuche Goslar e.V., Goslar
STETTNER,
R. (1996): "Archipel GULag": Stalins Arbeitslager - Terrorinstrument und
Wirtschaftsgigant. Entstehung, Organisation und Funktion des sowjetischen
Lagersystems 1928 - 1956.- 448 S., Ferdinand Schöningh
STUDIENKREIS ZUR ERFORSCHUNG UND VERMITTLUNG DER GESCHICHTE DES WIDERSTANDES 1933-1945 (1985): Heimatgeschichtlicher Wegweiser zu Stätten des Widerstandes und der Verfolgung 1933 – 1945, Bd. 2, Niedersachsen I, Regierungsbezirke Braunschweig und Lüneburg.- Pahl-Rugenstein-Verlag, Köln
TOLLMIEN, C.: www.cordula-tollmien.de/zwangsarbeiterinnen.html
VLADI, F. et al. (2000): Der Bau der Helmetalbahn - Ein Bericht von der Eisenbahngeschichte, den KZ-Außenlagern der SS-Baubrigaden, der Zwangsarbeit im Südharz in den Jahren 1944-45 und den Evakuierungsmärschen im April 1945.- Hrsg.: Arbeitsgemeinschaft Spurensuche in der Südharzregion, 164 S., Duderstadt (Mecke)
VÖGEL, B.:www.krieggegenkinder.de
WEINMANN, M. (Hrsg., 1990): Das nationalsozialistische Lagersystem (CCP).- 1. Aufl., 1169 S., Zweitausendeins, Frankfurt a. M.
Anschrift des Verfassers
Dipl.-Geol. Friedhart Knolle
Grummetwiese
16, 38640 Goslar
Fon
05321/20281, Fax 43335